Rasender Stillstand

Sonstiges, worüber man sich das "Maul" zerreisen kann.
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Vielfahrer
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Rasender Stillstand

Beitrag von Vielfahrer »

Auf der Fahrt zur Mitgliederversammlung der Gesellschaft für rationale Verkehrspolitik e.V. bin ich gestern eine längere Strecke mit diversen ICE unterwegs gewesen. Die maximale Verspätung lag bei 3 Minuten (auf insgesamt fast 1100 km). Im Zug lagen wie immer die verschiedenen Zeitungen kostenlos aus, wobei diesmal sich das Handelsblatt mit einem 8-seitigen sehr lesenswerten Beitrag mit der Situation der Deutschen Bahn AG auseinander gesetzt hat. Die Artikel sind auch im Internet vorhanden, teilweise allerdings mit Bezahlschranke versehen.

Interessant auch der Blick von SBB-CEO Andreas Meyer, der mit den SBB das nationale Heiligtum leitet. Er hat es natürlich etwas besser. Im Artikel ist zu lesen, dass in Deutschland der Staat 64 € pro Kopf der Bevölkerung in die Schieneninfrastruktur investiert, während in der Schweiz es 378 €, also fast sechs mal soviel ist.

Meyer kritisiert den in Deutschland teilweise riesigen und unsinnigen Aufwand im Ausschreibungswettbewerb, der oft von den tatsächlichen Kundenbedürfnissen ablenken würde. Er beleuchtet den Stellenwert des integrierten Bahnsystems und der Kommunikation im Glashaus. Gerade in den obersten Führungsetagen sei die Deutsche Bahn einem viel stärkeren politischen Einfluss ausgesetzt. Da beneide er seinen Kollegen Richard Lutz überhaupt nicht. Politische Diskussionen um die Besetzung von Vorstandsposten, wie es sie in Deutschland gab, wären in der Schweiz unvorstellbar.

Im 1. Kapitel befasst sich das Handelsblatt mit der 6-Minuten-Pünktlichkeitsdefinition: Es zähle zu den ewigen Mysterien des deutschen Eisenbahnwesens, warum die Verspätung nach DB-Logik erst bei sechs Minuten beginnen würde. Schließlich reicht schon die Hälfte davon, um seinen Anschlusszug zu verpassen oder die halbe Fahrt um ihn zu bangen.
Noch dramatischer als im Personenverkehr sehe es im Güterverkehr aus. An einem Tag im Juni standen 350 Güterzüge auf Abstellgleisen und Bahnhöfen herum. Fracht-Lokomotivführer würden zu falschen Einsatzorten geschickt, andere Kollegen suchten verzweifelt die Lok, mit der sie den 2.000-Tonnen-Zug auf die Strecke bringen sollen. Seit dem Frühjahr herrscht Chaos, berichten die Betriebsräte der Cargobahn. Weit über 100 Güterzüge stehen an ganz normalen Werktagen herum. Dabei hat sich die Bahn selbst eine Obergrenze gesetzt, nie mehr als 58 Güterzüge pro Tag abzustellen. Kein Wunder, dass die Güterbahn DB Cargo bei Speditionen und Industrie als unzuverlässig gilt.
Im Spätsommer dann auch noch die Katastrophe. Im Rheintal bei Rastatt sackte eine der am meisten befahrenen europäischen Eisenbahnmagistralen bei Bauarbeiten ab. Vollsperrung über sechs Wochen, bis zu 250 Züge pro Tag mussten umgeleitet werden oder fielen aus. Ob Bahn oder Baukonsortium Veranwortung tragen, werden Gutachter klären müssen. Auf der wichtigsten {gemeint ist die eingleisige Gäubahn} Ausweichstrecke wurde ebenfalls gebaut. Und es gab nicht genug Lokführer, um Züge über Frankreich umzuleiten. Für dieses Planungsdesaster machen andere Bahngesellschaften den deutschen Staatskonzern veranwortlich. Michail Stahlhut, Chef der Schweizer SBB Cargo International, empörte sich am Tag nach der Panne über den "traurigen Höhepunkt eines Missmanagements".

Das 2. Kapitel widmet sich recht einfühlsam Herrn Lutz, einem freundlich dreinschauenden athletischen Herrn, der auch für 43 durchgehen könnte (in Wahrheit ist er 53). So einer als Chef von 320.000 Leuten? Das Feldherrnprädikat "Bahnchef", das die Inhaber dieses Amtes in den Medion normalerweise anstatt eines Vornamens tragen: Der leise Herr Lutz muss es sich erst noch erarbeiten.

Das 3. Kapitel befasst sich mit der finanziellen Abhängigkeit der Bahn. U.a. wird das Mischmodell im Fernverkehr auf der Gäubahn erwähnt. Weitere Projekte seien in der Planung, führten aber dazu, dass der Fernverkehr nicht mehr suvbentionsfrei sei. Entsprechend sauer beklage etwa Abellio-Deutschland-Chef Stephan Krenz die "Wettbewerbsverfälschung", bei der eine unrentable IC-Linie staatlich subventioniert würde.

Im 4. Kapitel befasst sich das Handelsblatt im dem Sanierungsplan, der hängt: Früher seien die Mitarbeiter schon im Abstellbahnhof Berlin-Rummelsburg in die Züge gestiegen, zwei Stunden vor Abfahrt, und hätten in Ruhe dort die Waggons inspiziert. Gab es Defekte, wurden sie vor Ort behoben. Heute kämen die Bahnbediensteten erst am Startbahnhof auf ihren Arbeitsplatz. "Die Bahn will die Züge einfach nur auf der Schiene haben, um die Pünktlichkeitsstatistik einzuhalten". Defekte nehme man in Kauf. Auch die Klos sind nicht richtig gereinigt, müssen noch ausgesaugt werden. Eine verstopfte Toilette - schnell überkleben die Mitarbeiter ein Schild. Dort, wo sonst "WC" steht, prangt dann ein "Catering"-Aufkleber.

Im letzten Kapitel geht es dann um die Personalsorgen, bei der Güterbahn wie im Vorstand, die Aufgabe des Nachtverkehrs, um Kostenexplositionen, Sparanstrenungungen. Konsequenter wäre es, sich am Vorbild der Schweizer Bahn zu orientieren. In der Schweiz wird der Schienenverkehr klar als öffentliche Aufgabe gesehen, verbunden mit der eindeutigen Priorität, möglichst viel Verkehr auf die Schiene zu verlagern. Gleichzeitig gibt es den Konsens, dass man sich als Gesellschaft seine Eisenbahn ruhig auch etwas kosten lassen kann. Zeit für solch eine Weichenstellung wäre es auch in Deutschland. Denn die Nachteile der Bahn verblassen gegenüber denen der anderen Verkehrsmittel.

Viele Grüße vom Vielfahrer
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