Freie Bahn vom Atlantik zum Pazifik

Sonstiges, worüber man sich das "Maul" zerreisen kann.
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Vielfahrer
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Freie Bahn vom Atlantik zum Pazifik

Beitrag von Vielfahrer »

Die geplante Eisenbahnverbindung quer durch die Anden ist ein Jahrhundertwerk

Am Anfang war ein Telefonanruf. Vor gut zwei Jahren bat die Botschafterin Boliviens in Berlin einen deutschen und einen schweizerischen Eisenbahnspezialisten zum Gespräch. Die Order zur Kontaktaufnahme kam von ganz oben, vom bolivianischen Präsidenten Evo Morales. "Mit großen Werken verändern wir die Geschichte" ist der Wahlspruch des ersten Staatsoberhauptes des Andenlandes mit indigenen Wurzeln. Das ehrgeizigste dieser Werke, das Megaprojekt einer Eisenbahnverbindung vom Atlantik zum Pazifik, soll Morales' Regierungszeit krönen. Je schneller das Jahrhundertbauwerk vollendet ist, umso besser, denn spätestens im Jahr 2025, zur Feier des 200. Geburtstags der bolivianischen Republik, muss nach den Vorstellungen des Präsidenten der erste Zug rollen.

4000 verzwackte Kilometer

Aus der Schweiz folgte dem Ruf der bolivianischen Botschafterin Michele Molinari, CEO der Molinari Rail aus Winterthur. Molinari war in Bolivien kein ganz Unbekannter, hatte er sich doch bereits an der Ausschreibung für eine Straßenbahn beteiligt in Cochabamba, der drittgrößten Stadt des Landes. In persönlichen Gesprächen mit Morales und anlässlich mehrerer Treffen in Deutschland und der Schweiz reiften dann die Ideen für die Projektierung und den Bau der Transkontinentalbahn quer durch die Anden. Auf Antrieb Molinaris und mit tatkräftiger politischer Unterstützung aus Deutschland wurde eine Interessengemeinschaft (IG) ins Leben gerufen. Diese wird getragen von Swissrail, dem Unternehmerverband der schweizerischen Eisenbahnindustrie, und dem Verband der deutschen Eisenbahnindustrie. Ziel ist es, sich so frühzeitig für künftige Ausschreibungen zu positionieren.
Molinari, der als Sprecher der kunterbunten IG waltet, führt dieser Tage nun Vertreter von elf Unternehmen aus Deutschland und der Schweiz durch Bolivien. Auch ein Spezialist für Ausschreibungen von Stadler Rail ist mit von der Partie. Besichtigt werden die kritischen Stellen der geplanten Trasseeführung. Die IG wurde von der bolivianischen Regierung eingeladen, ein konkretes Angebot für den Bau eines der verzwacktesten Streckenabschnitte zu unterbreiten, nämlich des Aufstiegs vom tropischen Tiefland von Santa Cruz über Cochabamba zum andinen Hochland von La Paz. Insgesamt umfasst das Monsterprojekt 400 Kilometer Gleise, 3000 Meter Höhenunterschied und eine zerklüftete Gebirgsgegend mit geologischen Verwerfungen - eisenbahntechnisch eine echte Herausforderung. Bereits 2015 finanzierte die Interamerikanische Entwicklungsbank (IDB) eine entsprechende Projektstudie. Diese dient nun den Fachleuten der IG aus dem fernen Europa als Leitplanke.
"Geht nicht, gibt's nicht", lautet die Devise Molinaris. Man sei zur Zeit auf der Suche nach der optimalen Streckenführung, sagt der Eisenbahnfachmann im Gespräch in Cochabamba. Für ihn ist die IDB-Studie nicht sakrosankt, diese schlägt ein langes, flach ansteigendes Trassee dem Andenfuss entlang vor. Jeder Meter Streckenlänge, der eingespart werden könne, sei wichtig. "Keine sinnlosen Kilometer", eine direkte Streckenführung, das müssen wir anstreben", davon ist er überzeugt. Damit sollen Bau-, Betriebs- und Unterhaltungskosten so tief wie nur möglich gehalten werden. Ihm schwebt für den gebirgigen Teil innerhalb Boliviens eine Zahnradbahn vor, vergleichbar mit der Zermatt-Gotthard-Bahn oder der Rhätischen Bahn. "Wir rechnen mit bis zu 80 Promille Steigung; das ist mit einer anständigen Schweizer Zahnradlokomotive locker zu schaffen", fügt er bei. Zur technischen Ausführung gehört auch die Frage, ob die Bahn elektrisch oder mit Diesel betrieben werden soll. Noch ist dieser Entscheid nicht gefallen. Die relativ schmale Spurbreite von 1000 Millimetern ist vorgegeben, denn die bestehenden Schienenstränge in Brasilien und Bolivien sind so gebaut.
Europäische Diplomaten am Sitz der Regierung in La Paz glauben zu wissen, dass die Idee einer Zahnradbahn bei Präsident Morales auf Anhieb auf große Sympathie gestoßen sei. Allem Anschein nach sieht er die Europäer mit ihrer Erfahrung im Bahnbau in den Alpen als ideale Partner für sein Anden-Projekt. Ein Machtwort des inzwischen in Ungnade gefallenen peruanischen Präsidenten Pedro Pablo Kuczyniski hatte vor zwei Jahren einer nördlicher gelegenen Variante eines Eisenbahnkorridors den Garaus gemacht. Die chinesische Regierung hatte in Lima und Brasilia antichambriert, um eine wesentlich längere Bahnlinie quer durch das Amazonasgebiet bauen und auch zu finanzieren. Dass ein solches Projekt auf unüberwindlichen Widerstand von Umweltschützern aus aller Welt stoßen würde, war Kuczynski sofort klar. Für Morales war der Querschuss der Chinesen letztlich ein nicht zu vergessener Affront gegen seine eigenen Pläne. Bei künftigen Bauausschreibungen im Rahmen des bolivianischen Projekts dürften dies die Chinesischen Mitbewerber zu spüren bekommen.

100 Jahre alter Traum

Sowieso ist der Traum einer Eisenbahnverbindung zwischen Atlantik und Pazifik in der Südhemisphäre alles andere als neu. Schon vor einhundert Jahren liess der bolivianische Zinnkönig Simon Patino von einer deutschen Ingenieurfirma eine Studie ausarbeiten, wie das Tiefland Boliviens mit dem höher gelegenen Tal von Cochabamba zu verbinden wäre. Politische Querelen verunmöglichten die Ausführung des Projekts. Dagegen existieren doch seit Beginn des 20. Jahrhunderts Stichlinien von Bolivien an chilenische Pazifikhäfen, um vor allem Mineralien zu transportieren. Auch zum Atlantik fahren Güterzüge aus Bolivien. Hier sind die beförderten Mengen in den letzten Jahren dramatisch gestiegen. Die Güterzüge, die auf den schlechten Schienen und teilweise im Schritttempo fahren, sind vor allem mit Soja und anderen Getreidesorten zur Verschiffung Richtung China beladen. Wichtigste Nutzniesser sind die brasilianische Agroindustrie.
Das jetzt geplante, 3750 Kilometer lange Trassee wird erstmals das fehlende Verbindungsstück im Herzen Boliviens einbeziehen und den Transport von Gütern gleichzeitig nach Westen und Osten erleichtern. "Wir sind keine Konkurrenz zum Panamakanal, wir ergänzen ihn", sagt Ariel Torrico, der Chef der bolivianischen Equipe, die das Bahnprojekt betreut.. Es gehe nicht nur um die Exporte nach Übersee, mittelfristig viel wichtiger sei die Ankurbelung des regionales Güteraustauschs im Süden des Kontinents. Ein besonderes Interesse habe Paraguay angemeldet, das auf die Ausfuhr seiner Landwirtschaftsprodukte angewiesen ist. Dessen Binnenhafen Carmelo Peralta soll durch einen Schienenstrang ans Netz der transkontinentalen Bahn angeschlossen werden.
Grob gesehen besteht das Streckennetz des Eisenbahnkorridors aus drei Abschnitten. Der erste liegt in Brasilien. Auf dem brasilianischen, dem Atlantik zugewandten Abschnitt stellen sich am wenigsten technische Probleme. Hier führen bestehende Eisenbahnlinien durch topfebenes Land bis zur bolivianischen Grenze. Auf dieser Strecke braucht es teilweise neue Gleise und eine Verbesserung des Trassees, damit die Güterzüge mehr Lasen laden können. Planer rechnen mit 3 Mrd. $. Während sich die brasilianische Zentralregierung in der Vergangenheit wenig um den Eisenbahnkorridor kümmerte, nehmen Logistiker, die Agrarlobby und die regionale Regierung im bedeutenden Gliedstaat Mato Grosso umso engagierter Partei für die geplante Eisenbahnverbindung. Sie suchen eine Alternative zum chronisch verstopften und vergleichsweise teuren Hafen von Santos. Ihre Hoffnung: Die Kunden in Asien, vor allem in China, könnten von kürzeren Lieferzeiten und günstigeren Frachtpreisen profitieren. Studien zeigen, dass die neue Eisenbahnlinie durch die Anden die Transportzeiten beinahe halbiert. Heute müssen die Frachtschiffe ab Santos entweder den teuren Weg durch den Panamakanal einschlagen oder die zeitraubend eFahrt um die Südspitze des Kontinents in Kauf nehmen.
Komplizierter wird es auf dem Streckenabschnitt, der durch Peru führt. Dort muss vom Haven von Ilo bis zur bolivianischen Grenze eine Höhendifferenz von rund 4000 Metern überwunden werden, es besteht zudem einzig ein kurzes Gleisstück. Der Budgetrahmen liegt hier bei 7 Mrd. $. Peru hat ein genuines Interesse, den Süden des Landes zur chilenischen Grenze hin zu entwickeln und begrüßt das Projekt der Bolivianer. Studien zur technischen Machbarkeit sind weit fortgeschritten. Zu den bedingungslosen Befürwortern gehört der neue peruanische Präsident Vizcarra, der aus der Südregion stammt und selber einmal Verkehrsminister war. Der Ausbau des Hafens von Ilo geniesst für die peruanische Regierung Priorität, nicht nur, um das Volumen der künftigen transkontinental transportierten Güter zu absorbieren, sondern auch, um die eigenen Erze, deren Produktion sündig zunimmt, verladen zu können.
Das eigentliche Pièce de Résistance der Bahn ist der Streckenabschnitt, der durch Bolivien führt. Hier liegt die große Herausforderung in der Zusammenführung der zwei getrennten Schienennetze im Westen und im Osten des Landes. Grobe Schätzungen gehen von Bau- und Ausrüstungskosten in Höhe von mindestens 7 Mrd. $ aus. Um die Ausführung des Korridors von Santos bis Ilo zu beschleunigen, setzt die bolivianische Regierung alles daran, den eigenen Abschnitt so rasch wie möglich zu bauen. Damit sollen die Anrainer Peru und Brasilien von der Machbarkeit des Projekts überzeugt werden. Eine schlechte Nachricht brachte die Wahl des erzkonservativen brasilianischen Präsidenten Bolsonaro. In einem Telefongespräch mit dem ebenfalls konservativen chilenischen Präsidenten Pinera wurde die Eisenbahn thematisiert. Es droht ein Konkurrenzunternehmen zwischen Chile und Brasilien unter Ausschluss Boliviens, für dessen sozialistischen Präsidenten beide Staatsmänner wenig Sympathien aufbringen. Beobachter glauben nicht, dass die brasilianisch-chilenischen Pläne leicht umzusetzen sind, weil kaum Studien für diese Variante bestehen.

Finanzierung kein Problem

Dennoch: Je konkreter das Eisenbahnprojekt wird, umso mehr verstummen die Skeptiker in Bolivien, Brasilien und Peru. Sie haben immer wieder Nützlichkeit, technische Machbarkeit und Finanzierbarkeit des milliardenschweren Vorhabens angezweifelt. Als Kenner der Details des Projekts gehört Molinari ins Lager der Optimisten. Der Korridor durch Bolivien habe den Vorzug gegenüber anderen Varianten - deren gibt es mindestens ein halbes Dutzend -, da große Teile des Schienennetzes bereits existierten, sowohl in Brasilien als auch in Bolivien, und dass die Projektarbeiten am weitesten fortgeschritten seien. Auch die Finanzierbarkeit sei kein Problem, wenn man an einen Mix von Krediten von mulitlaleralen Banken, Exportförderungsinstitutionen und Geschäftsbanken denke. Schließlich unterstreicht Molinari den politischen Willen der bolivianischen Regierung, das Projekt durchzuziehen. Dies geschehe nicht zuletzt aus strategischen Gründen, brauche das Binnenland doch einen Zugang zu Meereshäfen und ein effiziente Transportsystem für die eigenen Rohstoffe.

Viele Grüße vom Vielfahrer, der vor inzwischen 42 Jahren genau auf dieser Strecke unterwegs war, vom Atlantik über Santa Cruz - Cochabamba - La Paz, dann allerdings über den Titicacasee nach Machu Picchu und weiter bis Lima. Damals noch im Schlafwagenzug bis Coruma (Grenze Brasilien/BolivienI und weiter im Triebwagen nach Santa Cruz, dann mit dem Bus nach Cochabamba - La Paz, mit dem Schiff über den Titicacasee und dann wieder mit der Bahn von Cuzco nach Machu Picchu.
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