Straßenbahnstrecke für Tübingen?

Strecken in Baden-Württemberg, die unten nich aufgeführt sind.
Vielfahrer
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Straßenbahnstrecke für Tübingen?

Beitrag von Vielfahrer »

Hallo,

in der Fachzeitschrift "Stadtverkehr" Heft 9/2021 findet sich eine kompakte Darstellung der Regional-Stadtbahn Neckar-Alb sowie der Innenstadtstrecke für Tübingen. Der Autor Stefan Göbel stellt zur Innenstadtstrecke fest: Ob in einer Stadt eine Straßenbahn gebaut werden soll oder nicht, ist angesichts der damit verbundenen Auswirkungen und Betroffenheiten eine politische Entscheidung. In Tübingen kann der Gemeinderat mit Zweidrittelmehrheit beschließen, eine Angelegenheit der eigenen Zuständigkeit im Rahmen eines Bürgerentscheids der Entscheidung der Gemeinde zu unterstellen. Für die Frage, ob die Innenstadtstrecke der Regional-Stadtbahn gebaut werden soll, geschah dies mit einstimmigem Gemeinderatsbeschluss am 10. Juni 2021. Als Frage, die eindeutig mit Ja oder Nein zu beantworten ist, einigte man sich auf die Formulierung: "Soll in Tübingen die Innenstadtstrecke der Regional-Stadtbahn Neckaralb gebaut werden?" Die Linke-Fraktion im Gemeinderat konnte sich nicht mit dem Versuch durchsetzen, die Fragestellung konkret auf die Streckenführung Karlstraße - Mühlstraße zu beziehen. Damit wäre, so die Antragstellerinnen, im Falle einer Ablehnung im Rahmen des Bürgerentscheids eine alternative Streckenführung über die Weststadt und den Hagellocher Weg auf den Schnarrenberg und nach WHO nicht ausgeschlossen. Fehle es dieser Tangentiale auch derzeit an einer ausreichende Fahrgastprognose, so könne sich dies ja in Zukunft ändern.
Beschließt der Gemeindrat die Abhaltung eines Bürgerentscheids, so muss gemäß Gemeindeordnung (§ 21. Abs. 5 Gem.O) der Bürgerinnen und Bürgern die innerhalb der Gemeindeorgane vertretene Auffassung bis zum 20. Tag vor dem Bürgerentscheid dargelegt werden. Alle Teilnahmeberechtigten (im Wesentlichen EU-Bürger ab 16 mit Hauptwohnsitz in Tübingen) erhalten daher im Vorfeld des Bürgerentscheids eine Informationsbroschüre zugesandt. Darin gibt es Informationen zum Sachverhalt und Darstellunen der unterschiedlichen Positionen zur Frage des Bürgerentscheids. Die terminliche Koppelung an die Bundestagswahl dürfte es befördern, dass der Bürgerentscheid nicht am Quorum scheitert. Denn, kommt nicht eine Mehrheit der gültigen Stimmen (Ja oder Nein) zustande, die zugleich mindestens 20 % aller Stimmberechtigten beträgt, fällt die Angelegenheit an den Gemeinderat zurück.
Es war in Tübingen erklärtes Ziel, den Menschen eine fundierte Entscheidung im Wissen um denkbare Alternativen zu ermöglichen, auch wenn diese Alternativen nicht zur Abstimmung stehen würden. So wurden die Firmen Ramboll und Inovaplan mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Dabei wurden Grundlagen ermittelt und Alternativen zur Innenstadtstrecke der Stadtbahn geprüft. Nach einer breiten Betrachtung kamen eine städtische Seilbahn zwischen Hauptbahnhof und Technologiepark WHO und ein Schnellbussystem in die Detailuntersuchung.

Die Seilbahn hätte laut Kartendarstellung sieben Stationen und zwei Umlenkstationen. Eine durchgehende Fahrt aus dem Eisenbahnnetz wäre nicht möglich, wohl aber eine relativ komfortable Umsteigelösung am Hauptbahnhof und die nahezu stetige Förderung einer Seilbahn minimiert, zumindest vom Zug kommend, die Wartezeiten. Die Kosten für die Errichtung der Anlage wuden auf 75 Mio. Euro geschätzt, mit Planungskosten, Baustelleneinrichtung, Unvorhergesehenem etc. netto 135 Mio. Euro, wobei die Gutachter auf Kostenrisiken bei Grunderwerb sowie offene Fragen der rechtlichen Rahmenbedingungen einer Umsetzung hinweisen und der Seilbahn einen signifikanten Eingriff in das städtebauliche Erscheinungsbild bescheinigten.

Ein grob halbringförmig ausgebildetes Schnellbussystem mit teilweise eigenen Fahrspuren wäre für viel geringere Investitionen zu haben (ca. 25 bis 30 Mio. Euro), hätte aber laut Gutachtern nur sehr geringe Wirkungen auf den Stadt-Umland-Verkehr und würde insgesamt zu einer Ausweitung des Busverkehrs führen.

Die Stadtbahn-Innenstadtstrecke ging laut Preisstand 2018 mit Nettokosten von 192 Mio. Euro in die Vergleichsrechnung. Laut Gutachtern kennzeichnen diese Lösungen eine hohe Verlagerungswirkung auf Stadt-Umland-Relationen, hohe Investitionen, vsl. hohe Förderungen, hoher baulicher Aufwand und die Möglichkeit zu Einsparungen im Busverkehr.

Was die Nachfrageeffekte angeht, haben die Gutachter zusätzliche Fahrten der Planfälle binnen 24 Stunden wie folgt errechnet:
Seilbahn 5.720, davon 2,140 verlagert, Schnellbus 6.640, davon 2.990 verlagert und RSB-Innenstadtstrecke 12.720, davon 6.690 verlagert.

Die verlagerte Pkw-Fahrleistung beträgt danach im Seilbahnfall 29.300 Fahrzeugkm in 24 Stunden, beim Schnellbus 22.300 k und bei der Innenstadtstrecke der Stadtbahn 79.600 Fahrzeugkm pro 24 Stunden.

Die Gutachter gaben dann noch eine Einschätzung der drei Lösungen, jeweils im Vergleich zum Ohne-Fall, aus vier Perspektiven: Stadt, Fahrgast (unterteilt nach Nutzenden aus Kernstadt, Ortsteilen und Umland), ÖV-Betreiber und Allgemeinheit. So ergibt sich ein differenziertes Bild und natürlich kein klarer "Sieger". Die Stadtbahn-Innenstadtstrecke verbindet die höchsten Kosten mit dem höchsten Nutzen. Bessere Verbindungen als heute bringt sie vor allem für Pendler, die für einen bedeutenden Teil des Autoverkehrs in der Stadt stehen, aber auch für Tübingens (wirtschaftliche) Attraktivität als zentraler Ort. Die Förderkulisse sorgt dafür, dass die Tübinger/innen mit dem großen Projekt nicht alleine gelassen werden. Die Studie gibt den Abstimmunsberechtigten in Tübingen Anregungen, ihre Präferenzen zu identifizieren, reflektieren und abzuwägen. Daraus können sie dann ihr Abstimmungsverhalten beim Bürgerentscheid ableiten. (...)

Viele Grüße vom Vielfahrer
Vielfahrer
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Re: Straßenbahnstrecke für Tübingen?

Beitrag von Vielfahrer »

Hallo,

der baden-württembergische Verkehrsminister Wilfried Hermann, der bekanntlich aus Rottenburg stammt und der als Bundestagsabgeordneter früher die Entwicklung in seinem Wahlkreis Tübingen schon immer mit großem Interesse verfolgt und unterstützt hat, hat dem Schwäbischen Tagblatt Tübingen heute in einem ganzseitigen Interview zur Regionalstadtbahn Neckaralb Rede und Antwort gestanden. Er äußert sich - erwartungsgemäß - sehr positiv zur Regionalstadtbahn Neckaralb insgesamt, spricht sich aber auch uneingeschränkt für die Innenstadtstrecke in Tübingen aus. Zahlreiche der Gegner kenne er persönlich und versichere, dass diese gewiss keine Dummköpfe seien. Er sieht aber den weiteren Angebotsausbau des öffentlichen Verkehrs über Busse an seinen Grenzen angelangt. Notwendig für den Raum Tübingen/Reutlingen mit über 200.000 Einwohnern wäre eine Aufwertung der vorhandenen alten Bahnstrecken aus dem Umland mit direkten Verbindungen zu den Arbeitsplatzschwerpunkten. Freiburg und auch der Raum Ulm, wo Gegner der Stadtbahn die Planungen jahrelang blockiert hätten, seien inzwischen weiter. Der Raum Tübingen/Reutlingen hinke mindestens 20 Jahre hinterher. Zunächst habe er daran gelitten, dass das Projekt Regionalstadtbahn vom Umfang und den Kosten her sehr groß gewesen sei, weshalb er noch in seiner früheren Funktion dazu geraten habe, es in Module aufzuspalten. So sei man dann auch vorgegangen und er sehe sich gewissermaßen als ein Pate des Moduls 1, der aktuell laufenden Elektrifizierung und Modernisierung der Ammertalbahn und der Ermstalbahn.
Angesprochen auf die Kosten der Regionalstadtbahn und der Tübinger Initiativen für einen kostenlosen Busverkehr, gibt Minister Hermann zu verstehen, dass seine Position eine andere sei. Der notwendige Ausbau des öffentlichen Verkehrs würde viele Gelder beanspruchen. Da könne man nicht noch auf Fahrgelder verzichten. Die kommunale Seite sollte einen preiswerten Tarif verlangen, also einen Tarif, der gemessen an einer attraktiven Leistung seinen Preis wert ist. Am Beispiel des bw-Tarifs zwischen Tübingen und Stuttgart, auf welchem bekanntlich auch die BahnCard Anwendung findet, sei der Tarif wirklich preiswert. Den Verbünden könne das Land nicht vorschreiben, wie sie ihre Tarife gestalten würden. Da sie von kommunaler Seite initiiert wurden, könne das Land die Verbünde auch nicht aufheben. Dies könne nur durch kommunale Beschlüsse erfolgen. Das Land biete für Zusammenschlüsse und neue Tarifmodelle auch finanzielle Hilfestellung. In einigen Teilen des Landes sei Bewegung in diesen Fragen festzustellen. Zielsetzung des Landes wäre das check-in be-out-System, bei welchem die Kunden sich nicht mehr mit dem Tarif befassen müssten, sondern automatisch am Ende den Bestpreis berechnet bekommen würden.

Viele Grüße vom Vielfahrer
Benutzer 14 gelöscht

Re: Straßenbahnstrecke für Tübingen?

Beitrag von Benutzer 14 gelöscht »

Hallo,

kannst du einschätzen, wie die Stimmung in der Stadt in dieser Frage ist? Wird es knapp oder sollte das in drei Wochen bei der Abstimmung klappen?

Ich konnte das ja die letzten Jahre hier gegenüber in Wiesbaden verfolgen. Hier war die Gegnerschaft der geplanten Citybahn von Anfang an sehr laut und massiv, um nicht zu sagen radikal. Und am Ende eben auch zahlreicher :-(

Gruß
Vielfahrer
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Re: Straßenbahnstrecke für Tübingen?

Beitrag von Vielfahrer »

Hallo Ortenau-S-Bahner,

nein, das kann ich leider nicht einschätzen. Es läuft aber so ähnlich wie in Wiesbaden ab. Die Gegener der Innenstadtstrecke machen sich lautstark bemerkbar, als unbefangener Beobachter oder Leser der Lokalzeitung gewinnt man den Eindruck, dass sie eine deutliche Mehrheit haben könnten. Heute etwa erschien eine ganzseitige Anzeige mit sicherlich einigen Hundert Namen von Gegnern, darunter auch der eine oder andere Prominente (z.B. Dieter Baumann, Olympiasieger). Auch der Schwäbische Heimatbund spricht sich gegen die Innenstadtstrecke aus. Die verbreiteten Thesen sind recht krud. Schienen seien in der Stadt Vergangenheit, da sie eine Anpassung an die zukünftigen Mobilitätstechniken (z.B. autonome Busse) erschwerten, Busse seien viel flexibler, das Stadtbild würde durch die Innenstadtstrecke zerstört, Viele würden am liebsten wohl eine Käseglocke über die Innenstadt hängen. Heftig kritisiert wird vor allem die Streckenführung vom Bahnhof über die Neckarbrücke und die enge Mühlstraße bis zur Universität in der Wilhelmstraße. Zweigleisige Stadtbahn, Busverkehr, PKW, Radfahrer, Außengastronomie und PKW-Verkehr zusammen ist in der Mühlstraße nicht sinnvoll. Apropos Busverkehr: Es fahren pro Richtung und Tag ca. 800 Stadtbusse durch diese enge Straße, dazuhin noch viele Regionalbusse, in der Summe wohl an die 2.000 Busse pro Tag, darunter sehr viele Gelenkbusse und Capa-City-Busse. Mitunter zählt man zeitgleich 10 Busse auf der Neckarbrücke, die vor wenigen Jahren saniert wurde, der der Schwerverkehr aber auch zusetzt. Kommt die Stadtbahn, dann muss die Brücke vorzeitig abgebrochen werden und durch eine neue tragfähigere und breitere Brücke ersetzt werden. Zu lesen war neulich auch, dass Elektrobusse wegen der starken Steigungen in Tübingen Probleme hätten.

Um für die Bürgerinnen und Bürger Entscheidungsgrundlagen zu liefern, hat die Stadt ein wissenschaftliches Gutachten - auch über Alternativen - erstellen lassen. Das Ergebnis der Gutachter ist eindeutig. Nur die Regionalstadtbahn mit einer Verlängerung durch die Innenstadt und die Universität zu den Kliniken auf dem Berg, den Uni-Instituten auf der Morgenstelle und dem Technologiepark sowie dem pripheren Stadtteil Waldhäuser-Ost verspricht, die vielen Autos der Zehntausenden Einpendler nachhaltig zu reduzieren. Bei einem alternativen Schnellbus-System wird die erhoffte Verlagerungswirkung bei weitem nicht erreicht. Auch eine Seilbahn vom Hauptbahnhof über die Innenstadt hinweg auf den Berg erzielt nicht ansatzweise die auf der Schiene mögliche Verlagerungswirkung. In Tübingen selbst dominiert der klimafreundliche Verkehr, Stadtbusse, Radfahrer und Fußgänger befördern weit mehr Fahrgäste als der Indiviualverkehr innerhalb der Stadt. Beim einbrechenden Verkehr von außerhalb ist es aber genau umgekehrt. Dort dominiert der PKW-Verkehr und belastet die Innenstadt, weil seine Ziele vorwiegend auf dem Berg liegen. Die Regionalstadtbahn Neckar-Alb folgt dem Karlsruher Weg, nämlich umsteigefreie Verbindung aus der Region bis zu den Arbeitsplätzen anzubieten. 8 Stadtbahnen pro Richtung und Stunde sollen von unterschiedlichen Quellorten dies ermöglichen.
Vor bald 50 Jahren gab es in Tübingen schon mal große Verkehrsplanungen. Zielsetzung war der sog. Nordring, eine großzügige vierspurige Straße, über den Berg. Teilweise wurde das verwirklicht, insgesamt aber nicht. Hunderte von PKW nutzen heute die frühere Vierspurigkeit zum Parken. Wenn die Stadtbahn kommt, werden diese Parkplätze zugunsten der Schienentrasse entfallen müssen und können, weil es entsprechende schnelle und komfortable öffentliche Verkehrsangebote geben wird. Mit einem Ja zur Innenstadtstrecke der Stadtbahn wird zugleich der PKW-Verkehr erschwert, was angesichts der Klimawirkungen des Individualverkehrs mehr als folgerichtig ist.

In drei Wochen wird abgestimmt. Da wird man dann sehen, ob Klimaschutz nur was für andere ist. Wer sich für die Intensität der Diskussion interessiert, der kann dies z.B. auf dem Facebook-Account von Oberbürgermeister Boris Palmer nachverfolgen.

Viele Grüße vom Vielfahrer
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Villinger
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Re: Straßenbahnstrecke für Tübingen?

Beitrag von Villinger »

Vielfahrer hat geschrieben: Sa 4. Sep 2021, 20:23 In drei Wochen wird abgestimmt. Da wird man dann sehen, ob Klimaschutz nur was für andere ist. Wer sich für die Intensität der Diskussion interessiert, der kann dies z.B. auf dem Facebook-Account von Oberbürgermeister Boris Palmer nachverfolgen.
Zum Account von Boris Palmer habe ich irgendwann als "Facebook-Freund" gefunden. Ich bekomme es regelmäßig angezeigt und lese mir das hin und wieder durch, über die Argumentationsqualität besonders der Gegner muss man sich manchmal wirklich wundern. Da wird eine Bahn nach BOStrab hingestellt als würde mit ihr das Abendland untergehen und die ganzen anderen Städte wo eine Straßenbahn fährt wären doch letztendlich genauso furchtbar.

Eine Abstimmung dazu durchzuführen ist zwar löblich, hier sehe ich aber auch die Risiken solcher Vorhaben der direkten Demokratie. Eindeutig volkswirtschaftlich und auch verkehrlich sinnvolle Projekte können auf diese Weise kippen, während zu Vorhaben wie dem B27-Ausbau im Bereich Tübingen niemand gefragt wird. Das wird vom RP auf Druck von Politik und vielleicht noch Lobbyorganisationen einfach durchgeführt.
Ich wüsste nicht, dass die Verwaltung für diese Abstimmung verpflichtet ist? Das ist doch viel mehr um einen Rückhalt dafür zu gewinnen.
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Re: Straßenbahnstrecke für Tübingen?

Beitrag von Vielfahrer »

Hallo,

auf der Basis einer Umfrage unter über 2350 Personen (allerdings nicht repräsentativ) prognostiziert das Schwäbische Tagblatt für den am kommenden Wochenende anstehenden Bürgerentscheid zur Innenstadtstrecke in Tübingen ein deutliches Nein. Den Prognosen des Schwäbischen Tagblatts zufolge werden ca. 70 % der Bürgerinnen und Bürger sich gegen die Innenstadtstrecke aussprechen, während nur 21 % sie befürworten. Im Umland von Tübingen hingegen ist die Stimmung differenzierter. In Ammerbuch begrüßen 30% die Innenstadtstrecke, 40% lehnen sie ab. In Dettenhausen sind 33 % pro Innenstadtstrecke, 23 % dagegen. In Rottenburg sind 35% für die Innenstadtstrecke, 34 % dagegen. In Starzach 39% dafür, 15 % dagegen, in Dusslingen 41 % dafür, 28 % dagegen, in Nehren 42 % dafür, 32 % dagegen, in Mössingen 33 % dafür und 20% dagegen und die meisten Befürworter gibt es in Bodelshausen, wo 46 % dafür sind, während 16 % sich gegen die Innenstadtstrecke aussprechen. Abstimmen freilich dürfen nur die Tübinger Einwohner, die von der Innenstadtstrecke profitierenden Einpendler hingegen nicht. Tübingen hat täglich mehr als 30.000 berufstätige Einpendler (also ohne Schüler, Studenten usw.) und ca. 15.000 Auspendler. Die große Mehrheit der die Stadtgrenzen überschreitenden Pendler ist mit dem eigenen Auto unterwegs (ca. 70 %), während es bei den Tübingern in der Stadt sehr viel weniger sind. Ich habe in Erinnerung, dass hier nur ca. 30 % mit dem eigenen Auto unterwegs sind. Stark ausgeprägt ist in Tübingen der Fahrradverkehr und der öffentliche Nahverkehr mit Bussen. Über die Neckarbrücke und durch die Mühlstraße fahren pro Tag knapp 2.000 Busse in beiden Richtungen zusammen. Dafür gibt es in der Mühlstraße zwei Fahrspuren. Stadteinwärts dürfen PKW und Busse fahren, Radfahrer haben einen eigenen ca. 1,5 Meter breiten Radweg. Stadtauswärts teilen sich Busse und Radfahrer eine abwärts führende Spur, PKW dürfen hier nicht fahren. Der Weg von der Innenstadt zur Neckarbrücke erfordert durch den Schloßbergtunnel einen Umweg von ca. 3,5 km oder über Lustnau einen solchen von ca. 4,5 Kilometern.
Die Gründe, die gegen die Innenstadtstrecke angeführt werden, sind die erwarteten Beeinträchtigungen durch die notwendigen Baumaßnahmen. U.a. muss die Neckarbrücke neu gebaut werden (nach Angaben von Fachbüros steht dies aber in spätestens 15 Jahren ohnehin an). Die Tübinger sind wohl mehrheitlich der Meinung, dass ein Bus-System flexibler wäre als eine schienengeführte Stadtbahn. Außerdem glauben offenbar nicht wenige, dass in Zukunft autonome Busse den Personentransport übernehmen könnten. Der Stadtbahn wird zwar ein Nutzen in der Verkehrsspitze aufgrund ihrer Beförderungskapazitäten zugebilligt, den Rest des Tages hingegen wäre sie eher leer, wird gemutmaßt. Bei Bussen sei man da flexibler (wenn man über ausreichend Fahrerinnen und Fahrer verfügt, die bereit sind, nur in der Verkehrsspitze zu fahren).

Das Schwäbische Tagblatt hat sich auch bei seinen Befragungen erkundigt, wo die potentiellen Umsteiger von PKW auf den öffentlichen Nahverkehr Probleme sehen. 15 % der Interviewten finden den Weg vom Wohnort zum Bahnhalt zu weit. 8 % finden ihn vom Bahnhalt zum Arbeitsplatz zu weit. Die erwartete Fahrzeit finden 6 % kritisch, das Warten auf die nächste Bahn (30-min-Takt in die Region) finden 12 % zu lang. Die Naldo-Preise werden von 11 % kritisert, der Tarifdschungel geht 10 % auf den Wecker ebenso wie das Herausfinden und Lösen des richtigen Tickets. 14 % aller Befragten kritisieren die Unzuverlässigkeit von Fahrten/Verbindungen.

Angenommen, der Bürgerentscheid geht so aus, wie es das Schwäbische Tagblatt prognostiziert. Dann ist der Gemeinderat, der mit deutlicher Mehrheit die Innenstadtstrecke befürwortet hat, einige Jahre lang an diesen Entscheid gebunden. In Ulm etwa hatten sich von ca. 15 Jahren die Bürgerinnen und Bürger auch gegen die Straßenbahn und für Busse entschieden. Dadurch war der Stadtverwaltung 10 Jahre lang untersagt, die Stadtbahn auszubauen. Nach Ablauf dieser Frist hat die Stadt aber die Planung wieder aufgenommen und bekanntlich die Linie 2 (Task force two) erfolgreich umgesetzt (Linie 2 vom Eselsberg, wo Wissenschaftszentrum und Kliniken liegen über den Hauptbahnhof zum Kuhberg, wo das Schulzentrum liegt). Denkbar ist inzwischen auch, dass in der Schwesterstadt Neu-Ulm, die bislang die Stadtbahn völlig abgelehnt hat, ein Umdenken eintritt und z.B. die Verbindung nach Wiley oder Ludwigsfeld in Zukunft doch noch auf Stadtbahnbetrieb umgestellt wird.

In Tübingen könnte es ähnlich laufen. Die Regionalstadtbahn (ohne Innenstadtstrecke) ist unbestritten. Die bei negativem Bürgerentscheid eintretende Karrenzzeit könnte genutzt werden, um über alternative Streckenführungen zwischen Hauptbahnhof, Klinken, Universitätsinstituten und Technologiepark sowie Wohnquartier Waldhäuser Ost nachzudenken. Der Zwang, etwas zu verändern, ist gegeben. Pro Jahr hat Tübingen ca. 1.000 Einpendler mehr zu verkraften, die sich zu den Stoßzeiten aus allen Richtungen bis zu 5 km und mehr stauen, morgens wie nachmittags. Auch Busse würden da im Stau stehen, weshalb die Gutachterbüros einem verbesserten Bus-System nur einen vergleichsweise bescheidenen Umsteigeeffekt zugebilligt haben.

Es wird also spannend, wie sich die Tübingerinnen und Tübinger am nächsten Sonntag - nicht für in der Frage der Bundestagswahlen - entscheiden.

Viele Grüße vom Vielfahrer
Vielfahrer
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Re: Straßenbahnstrecke für Tübingen?

Beitrag von Vielfahrer »

Hallo,

die Abstimmung über die Innenstadtstrecke Hbf - Universität - Kliniken Tal - Kliniken Berg - Technoligiepark - Waldhäuser Ost rückt näher. Wie heute zu lesen ist, wurden die Beschäftigten der Kliniken nach ihren Wünschen befragt. Die Tübinger Beschäftigten sprachen sich mehrheitlich gegen die Innenstadtstrecke aus, während die Beschäftigten aus dem Landkreisgebiet, für die die Innenstadtstrecke beim Pendeln unbestrittene Vorteile bieten würde, mehrheitlich für die Innenstadtstrecke votierten. Abstimmen können allerdings nur Bürgerinnen und Bürger Tübingens. Wenig erstaunlich war, dass die Beschäftigten (Teilnahme immerhin 20 % aller Klinikbeschäftigten) sich für mehr Parkplätze rund um die Kliniken aussprechen. Der Direktor der Klinik, Prof. Dr. Bamberg, ein Unterstützer der Innenstadtstrecke, kam zur Schlußfolgerung, dass man zu einer besseren Erreichbarkeit der Klinik beides brauche, die Innenstadtstrecke und ein weiteres Parkhaus.

Ungeachtet der anstehenden Abstimmung wird bereits über Alternativen diskutiert, sollte die Innenstadtstrecke abgelehnt werden. Eine Variante ist es, mittels eines neuen Tunnels den Engpass in der Mühlstraße zu umfahren bzw. der Geschäftsführer des Zweckverbands RegioStadtBahn Neckar-Alb, Tobias Bernecker, regt an, eventuell eingleisig den nur wenige 100 m langen Engpass zu befahren, um den Radlern mehr Straßenfläche geben zu können.

Seit dieser Woche ist übrigens für über ein Jahr die Zufahrt in die Innenstadt über die sog. Blaue Brücke (aus Richtung Süden) gesperrt. Sie wird abgerissen und neu gebaut. Dies führt dazu, dass sich der Verkehr dramatisch staut, weil es nur noch die Durchfahrt durch den doppelspurigen Schloßbergtunnel gibt. Busse, Rettungswagen usw. stehen im Stau. Für Fahrradfahrer wurde gerade noch rechtzeitig eine neue Fahrradbrücke über die Steinlach fertig, bekannt als eine beheizte Radbrücke, um bei kalten Temperaturen nicht mit aggresivem Streusalz der Brücke zuzusetzen. Heute nun hat ein LKW-Fahrer aus einem Nachbarort mit seinem 12-Tonner sämtliche Verbotsschilder mißachtet und hat die nur für den Radverkehr ausgelegte Brücke befahren. Sie muss nun auf mögliche Schäden untersucht werden.

Sollte die Innenstadtstrecke abgelehnt werden und von den Tübingern stattdessen ein Schnellbussystem, das von der Intiative gegen die Innenstadtstrecke als Alternative angepriesen wird, umgesetzt werden, so müssen laut Stadtverwaltung von den beiden Fahrspuren durch den Schloßbergtunnel je eine für eine Busspur weggenommen werden, damit die Schnellbusse überhaupt fahren können. Die Auswirkungen auf die weiterhin mit dem PKW einpendelnden Beschäftigten wären vermutlich noch größere Stausituationen. Rund 35.000 Pendler nutzen ihren PKW zur Fahrt nach Tübingen, wobei aufgrund der Wohnungsknappheit und der jährlich um etwa 1.000 Arbeitsplätze zunehmenden Beschäftigungslage ein Gegensteuern unabdingbar ist, nicht nur wegen der Klimathematik allgemein.

Vorschläge, wie etwa den Tunnel der Ammertalbahn für Stadtbahnfahrten bis zum Westbahnhof zu nutzen und dort auf einer neu zu bauenden Schienenstrecke in Richtung Hagelloch die Universität, die Kliniken und die Forschungseinrichtungen zu erreichen, sind nicht realistisch. Derzeit verkehren in der Spitze 8 Züge pro Stunde in beiden Richtungen durch den Tunnel. Weitere 16 Züge gibt die Trasse definitiv nicht her, außerdem wären die Fahrzeiten deutlich länger und die Attraktivität damit geringer.

Unabhängig von diesen nicht realistischen Überlegungen hat der Zweckverband Ammertalbahn heute Sperrungen in den kommenden Monaten angekündigt. Eine erste eintägige Sperrung gibt es bereits am 3. Oktober. Vom 26. Februar bis zum 6. März wird auch kein Zug fahren. Vom 7. März bis zum 1. April wird ab 20 Uhr täglich gesperrt sein. Und die längste Vollsperrung geht dann vom 2. Mai bis zum 12. September im nächsten Jahr. Über Wochen und Monate dürfen dann die Ammertäler Pendler in SEV-Bussen im alltäglichen Stau wie die PKW stehen. Das dürfte kaum zur Verkehrswende beitragen. Einziger Lichtblick ist diesbezüglich, dass im kommenden Jahr mit deutlichen Preissteigerungen für Treibstoffe gerechnet werden muss. Vielleicht ist dies dann ein Grund, das Verkehrsverhalten zu verändern. In Tübingen selbst haben die Gemeinderatsfraktionen sich zwischenzeitlich darauf verständigt, dass die Gebühren für das Anwohnerparken von 30,70 € pro Jahr auf 120.- € pro Jahr (und nicht auf 360.- €, wie von der Stadtverwaltung vorgeschlagen) erhöht werden sollen.

Viele Grüße vom Vielfahrer
Vielfahrer
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Re: Straßenbahnstrecke für Tübingen?

Beitrag von Vielfahrer »

Hallo,

nachdem der erste Wahlbezirk ausgezählt wurde (von 82 Wahlbezirken) liegen die Gegner der Innenstadtstrecke der Regionalstadtbahn mit 64,29% vorne. Ändert sich im Laufe des Abends hoffentlich noch zum Besseren.

Inzwischen ist knapp ein Viertel ausgezählt. Die Zustimmung beträgt nunmehr 42 %, die Gegner dürften aber mit aktuell 58 % am Ende die Nase vorn haben.

Viele Grüße vom Vielfahrer
Benutzer 14 gelöscht

Re: Straßenbahnstrecke für Tübingen?

Beitrag von Benutzer 14 gelöscht »

Sieht bei aktuell 63 von 82 Bezirken nicht besser aus: 42% Ja, 58% Nein. *8-O* *:-(*
Vielfahrer
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Re: Straßenbahnstrecke für Tübingen?

Beitrag von Vielfahrer »

Hallo,

der Bürgerentscheid (ausgezählt sind 90 % der Wahlbezirke) lässt den klaren Schluss zu, dass die Gegner der Innenstadtstrecke leider die Oberhand haben. Damit ist klar, dass die Regionalstadtbahn zwar kommen wird, jedoch nicht mit der Verlängerung auf der geplanten Trasse durch die Innnenstadt zu den Kliniken, dem Technologiepark und dem großen Wohnstadtteil Waldhäuser Ost.

Was bleibt, das ist ein jährliches Wachstum von ca. 1.000 Arbeitsplätzen, einhergehend mit einer starken Zunahme der Pendler, denn in Tübingen ist Wohnen nicht nur teuer, sondern das Angebot ist sehr gering, d.h. viele müssen sich in der Region ihre Wohnungen suchen. Schon heute stehen die PKW aus allen Richtungen während der Hauptverkehrszeit in kilometerlangen Staus. Dass da mit ebenfalls im Stau stehenden Schnellbussen was geht, glauben wohl nur die Gegner der Innenstadtstrecke.

Drei Jahre lang ist der Stadtrat an diesen Bürgerentscheid gebunden. Danach kann er erneut entscheiden. Die Stadt Ulm, der es vor Jahren ähnlich ging, hat in dieser Zeit planerische Vorleistungen erbracht und unmittelbar nach dem Ende der Bindungsfrist des Bürgerentscheids dann die Weichen doch auf Ausbau des öffentlichen Verkehrs stellen können. In Rekordzeit wurde die Stadtbahnline 2 umgesetzt. Und die Ergebnisse in Ulm können sich sehen lassen.

Viele Grüße vom Vielfahrer
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