Eröffnung des Ceneri-Basistunnels

Sonstiges, worüber man sich das "Maul" zerreisen kann.
Antworten
Vielfahrer
Örtlicher Betriebsleiter
Örtlicher Betriebsleiter
Beiträge: 4786
Registriert: So 1. Aug 2010, 13:32
Wohnort: Tübingen Weststadt

Eröffnung des Ceneri-Basistunnels

Beitrag von Vielfahrer »

Hallo,
Helmut Stadlder von der Neuen Zürcher Zeitung befasst in der heutigen internationalen Ausgabe vom 29.02.20 sich mit der Rolle der Deutschen im Alpentransit:

Deutschland ist der Bremsschuh im Alpentransit


Man erinnert sich gern an den großen Tag im Juni 2016, als die Schweiz feierlich den Gotthard-Basistunnel eröffnet hat und die Regierungschefs der Nachbarstaaten in den höchsten Tönen die Leistung des kleinen Alpenlandes gelobt haben. Allen voran die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel beschwor die Symbolkraft des weltlängsten Tunnels. Er erhöhe den Takt der Zusammenarbeit und des Zusammmenlebens, sagte sie und wünschte sich, dass Europa das Verbindende zu nutzen wisse. Deutschland sei sich bewusst, dass es für den europäischen Transitkorridor Rotterdam - Genua auch auf deutscher Seite noch Aufgaben zu erledigen gebe, nämlich den längst zugesicherten Ausbau der Rheintalstrecke zwischen Basel und Karlsruhe. Deutschland werde nun mit noch mehr Elan an diesen Aufgaben arbeiten, versicherte Merkel. Doch was am Fuß des Gotthards tönte wie ein Bündnisschwur - alles leer Worte.

Jetzt, knapp vier Jahre später, hat die Schweiz auch den Ceneri-Basistunnel fertiggestellt und wird ihn Ende Jahr fristgerecht als letztes Stück der Flachbahn durch die Alpen Europa zur Verfügung stellen. In den 28 Jahren seit dem Alpentransit-Beschluss hat sie auf eigene Rechnung mehr als 200 Kilomemter Röhren durch die Alpen gebohrt und 20 Tunnels und 150 Anlagen für den Verlad von Lastwagen erweitert. Deutschland hingegen hat es immer noch nicht fertig gebracht, seine Rheintalstrecke auszubauen. Erst ein Drittel der 180 Kilometer ist erweitert. Bis die Strecke durchgehend vierspurig ist, wird es weitere 20 Jahre dauern.

Deutschlands hoffnungslose Verspätung ist nicht bloss peinlich für ein Land, das sich gern als Lokomotive Europas sieht. Es ist auch ein eklatanter Wortbruch gegenüber der Schweiz und Europa. Deutschland hatte sich 1996 im Vertrag von Lugano verpflichtet, die Kapazitäten für den Zubringer zur Alpentransversale auszubauen, die Rheintalstrecke und auch die Verbindung Stuttgart - Singen - Schweiz. Beide Linien fungieren als wichtige Teile von Hochgeschwindigkeits-Korridoren in der Transeuropäischen Netzplanung und sich auch im Bundesverkehrswegeplan als vordringliche Projekte definiert. Aber trotz allen vollmundigen Versprechungen hat Deutschland den Ausbau der Bahn jahrzehntelang auf Sparflamme gehalten und im Fall der Rheintalstrecke mit unzulänglichen Planungsprozessen eine europäische Hauptschlagader des Verkehrs vernachlässigt. Die Schweiz hingegen hat mit der Alpentransversale auf den Achsen Lötschberg - Simplon und Gotthard - Ceneri immense Vorleistungen für den europäischen Schienenverkehr gebracht. Zu recht sieht sie sich nun durch die Versäumnisse Deutschlands am Gotthard ausgebremst und um die Früchte der Anstrengungen geprellt. Auf Jahre hinaus werden die Bauwerke nicht ihre volle Transportleistung und Verlagerungswirkung entfalten, weil Deutschland nicht rechtzeitig eingespurt ist.

Deutschland bleibt die Schmach, dass Italien, das die meisten seiner Zufahrten zeitgerecht ausgebaut hat, der tüchtigere Partner ist. Der Schweiz bleibt die Ernüchterung, dass selbst mit einem Staatsvertrag auf Deutschland in Sachen Bahn wenig Verlass ist. Und es bleibt die Hoffnung, dass mit Frankreich auf der elsässischen Seite des Rheins schneller mehr Transportkapazität geschaffen und Deutschlands Trauerspiel am Rhein links liegen gelassen werden kann.

Viele Grüße vom Vielfahrer
Antworten