Mehr Klassengesellschaft in der Eisenbahn, bitte!

Sonstiges, worüber man sich das "Maul" zerreisen kann.
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Vielfahrer
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Mehr Klassengesellschaft in der Eisenbahn, bitte!

Beitrag von Vielfahrer »

Hallo,

der regelmäßig mit den SBB fahrende Redakteur Martin Helg der NZZ beschäftigt sich in der kommenden Sonntagsausgabe ausführlich mit der Bahn und dem auch hierzulande vorgegebenen Ziel der Verdoppelung der Nachfrage. „Der Bund will viel mehr Züge fahren lassen. Viel wichtiger wäre hingegen endlich mehr Qualität und eine Abkehr von der Nivellierung gegen unten“ lautet die Grundthese in seinem lesenswerten Essay. Er identifiziert die „finanziellen Lenkungswirkungen“ als Schmiermittel des Wachstums, womit offenbar eine Art Malus-System für den Privatverkehr gemeint ist.

Selbst in den umweltbewussten Ohren begeisterter Bahnfahrer klingt das nicht nur verheißungsvoll, sondern auch nach planwirtschaftlich verordnetem Dichtestress. Zu erwarten ist, dass die Platzverhältnisse in Zügen nun noch beengter werden, die Beinfreiheit knapper, die Luft stickiger. Wird der Mensch im verdoppelten Zugverkehr noch zur Ruhe kommen?

Das Schlimmste befürchten lässt diesbezüglich ein anderer Planungstiger der jüngeren Eisenbahn-Neuzeit, der mit avancierter Elektronik vollgepumpte Renommierzug „Dosto“. Gut, nach langwierigen Kinderkrankheiten tut er seinen Dienst mittlerweile zuverlässig und ganz im Namen der Effizienz: 1300 Sitzplätze auf 400 Metern Zuglänge sind eine Kapazitätssteigerung von zehn Prozent! Und signifikant verbessert hat sich auch seine MDBI oder „Mean distance between incidents“, sprich: die Wegstrecke zwischen zwei technischen Störungen oder betrieblichen Verzögerungen.

Nun kann eine vergeigte MDBI den Passagieren zwar das Zugfahren vergällen (klassisches Beispiel: das Pannenfiasko der in den 90er Jahren zu Tode gesparten britischen Eisenbahnen), aber umgekehrt garantieren Spitzenwerte bei der Zuverlässigkeit allein noch kein befriedigendes Reiseerlebnis.

Im Gegenteil: Wer schon einmal versucht hat, im Schüttelbecherklima des Dosto eine Postkarte zu schreiben oder auch nur einen Satz in den Laptop zu tippen, sehnt sich ungeplante Zwischenstopps geradezu herbei – ganz zu schweigen vom Geratter der Lüftungen und des mysteriösen Rückstoß, der bei jedem Halt Passagiere in Gefahr bringt, die Treppe zum Unterdeck hinabzupurzeln.

Die nun angestrebte Passagierverdoppelung, so ist zu befürchten, verlängert das Prinzip Dosto ins Unabsehbare. Es dreht sich um Raumüberwindungsgeschwindigkeiten und Transportvolumina und vergisst dabei das vornehmste Transportgut: den Menschen. Unter die Räder kommt die Reisequalität, das Gespür für den Weg an sich, der doch für immer mehr Passagiere – und längst nicht mehr nur für habituelle Weltenbummler und Goa-Pilger – seinen eigenen Erlebniswert besitzt.

Zeugnis der neuen Achtsamkeit unterwegs gibt der Boom der Luxuszüge vom Orientexpress über den Royal Scotsman und Transcantabico bis zum Shongolo Express in Südafrika, aber auch, bescheidener, die Wiederbelegung von transeuropäischen Nachtzugstrecken ab diesem Sommer.

Man will die Bahnreise also wieder genießen doch allzu oft endet der Genuss schon am Bahnhof. Der ist nämlich im Verlauf der letzten Jahrzehnte weggespart worden. Oder dann sind Schalterhalle und Wartesaal geschlossen, so dass die Rituale der Vorfreude entfallen – Mani Matters „Ds Lied vo de Bahnhöf“ wird in Pfadilagern nicht länger gesungen. Also eilt man zu spät zum Zug, verpasst ihn prompt und ist gezwungen, im zugigen Glaskäfig auf dem Perron auf den nächsten zu warten. Zum Glück kommt der oft schon nach 15 Minuten. Man will die Sache jetzt nur noch hinter sich bringen.

Woher die Lustlosigkeit? Immerhin sind wir Eisenbahnchampions. Dichtestes Netz der Welt, und Weltrekord bedeuten auch die 2.700 Bahnkilometer, die jeder Schweizer und jede Schweizerin pro Jahr zurücklegt. „Der Kluge reist im Zuge“ postuliert der Slogan von 1958; es klingt mehr nach Vernunft als nach Leidenschaft.

Dabei hat das Bahnfahren in der Schweiz als distinktive Genusskultur begonnen. Bis in die 1860er Jahre waren selbst Drittklasse-Reisen ein Privileg der Hablichen, erst in der Belle Époque wurde Zugfahren allgemein erschwinglich, wie der Eisenbahnfachmann Hans-Peter Bärtschi schreibt („Schweizer Bahnen 1844 – 2024“). Erkauft war die Demokratisierung mit Qualitätsabstrichen in den billigen Klassen, wo Waggons nach 1900 oft veraltet, Heizungen unbrauchbar und Toiletten inexistent waren.

In den folgenden Jahrhunderten hat die Toilettenmisere – Defekte! – auf die erste Klasse übergegriffen. Das für Reisequalität bedeutsame Detail lässt erahnen, dass de egalitären Charakter der SBB auf einer Nivellierung gegen unten beruht, bis ihn zur Entfernung der Abfalleimer aus Züricher S-Bahn-Abteilen.

Eine weitere Weichenstellung in die kleinliche Richtung war der Entscheid des Bundesrats von 1872, den Kantonen den Bau billiger Schmalspurbahnen (meist 1000 mm Spurweite) zu erlauben – nicht ohne Grund ist der Zug, der die Erlebnisqualität des Reisens am prominentesten versinnbildlicht, der transsibirische „Zarengold“, bis heute auf überbreiten 1520 Millimetern unterwegs und bietet neben üppiger Zehenfreiheit auch Platz für die legendären Reisen-Teekocher namens „Samowar“.

Ohne die zaristische Teekultur überstrapazieren zu wollen: Beim Schweizer Bahnausbau wäre die Verlegung einer zusätzlichen, breiteren Spur als Unterlage für Luxuszüge zumindest zu erwägen. Diese könnten, um den Budgetrahmen nicht zu sprengen, zweistündlich geführt werden, was die Reisefreude der Passagiere noch ankurbeln würde.

Statt nach alter Gewohnheit planlos in den nächsten Zug zu stolpern, der gerade in der Nähe halt macht, wäre der Connaisseur bereit, den Eintritt in sein samtgepolstertes, vielleicht von livriertem Steward bedientes Pullman-Abteil genussfördernd aufzuschieben.

Denkt man in diesem selektiven Sinn weiter, landet man beim Privatwaggon nach amerikanischem Vorbild. Es soll der Zirkuspionier und Kuriositätenkabinettbetreiber Phineas Taylor Barnum gewesen sein, der die noble Tradition begründete, indem er der Sopranistin Jenny Lind einen Waggon für ihre US-Tournee 1850 – 1852 bereitstellte. Später vertrauten Tycoons wie die Vaderbild oder Woolworth, aber auch Franklin D. Roosevelt, Henry Ford oder Clark Gable auf eigenes Schienenrollmaterial.

Bis heute sind auf den 21.000 Meilen der amerikanischen Amtrak-Routen rund 150 private Wagen unterwegs, jeder im Wert von 25.000 bis 800000 Dollar vor Renovation, wie die Reporterin Nancy Kates für das Wall Street Journal recherchiert hat. Die Waggons, schreibt Keates, gleichen üppig und elektrisch ausgestatteten Minivillen mit mehreren Schlafzimmern, gewölbten Glasdecken und Aussichtsplattformen. Der Milliardär John Paul De Joria zum Beispiel hat den seinen im Stil eines indischen Palastes mintgrünen Samstofas, Brokatvorhängen und Bildern im Goldrahmen getunt.

Die Adoption der Privatwaggonkultur durch die SBB wäre zwar insofern antizyklisch, als sie in Amerika gerade etwas aus der Mode kommt – eine Folge der öffentlichen Forderung, die Amtrak möge endlich ihre Fahrpläne einhalten. Solcher Kleingeisterei hält ein Schienennetzbetreiber natürlich nicht dadurch stand, dass er mit dem An- und Abkoppeln privater Extrakutschen noch zusätzlich Zeit vertrödelt.

In der Schweiz ist das Problem aber weniger akut, weil sich die Zugspünktlichkeit hier schon seit Jahren auf Spitzenniveau bewegt. Wir meinen, im Sinn des Genusses: Mit Marge nach untern!

Viele Grüße vom Vielfahrer
Karl Müller
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Re: Mehr Klassengesellschaft in der Eisenbahn, bitte!

Beitrag von Karl Müller »

In der Tat, - Danke für den Artikel. Da wir immer wieder mehr und noch mehr Fahrgäste in unser ohnehin nur schlecht funktionierendes Eisenbahnsystem stopfen wollen stellt sich mir schon oft die Frage - ist das alles was wir wollen?
Schaut keiner auf die Transportqualität? Ist funktionierendes wlan ALLES was die Fahrgäste brauchen?
Ich fange bei den Bahnhöfen an und damit hört die Reisekette für viele auch auf. Bahnhöfe aus dem vorletzten Jahrhundert, in Tübingen dürften die Aufzüge das modernste am ganzen Bahnhof sein.
In Reutlingen nicht besser. Im Gegenteil, hier wurde allein vor Jahren der Zeitschriftenhandel auf Bahnsteig 1 verbreitert, aber sonst - Nix. Nullinger. Das drumherum - schrecklich. Ein Bahnhofsviertel das abschreckt, oder zumindest nicht einlädt. Nur hartgesottene Zugfahrer kann nichts mehr abschrecken, Pisser, Penner, lichtscheue Gestalten und sonstiges Gesindel zieht der Bahnhof an wie die Motten das Licht.
Im Parkhaus viel Gesindel das sich währned des lockdown herumtrieb, Drogen und Autohandel in aller öffentlichkeit ( wie mir in einem Gespräch der Parkhauswächter bestätigte).
Nein, der ÖPNV muß sich nicht nur neu erfinden ( abellio, Ausschreibungen, Insolvenz und so) er muß die Aufenthaltsqualität komplett Neu machen.
Stellt Euch mal Busse und Bahnen ohne Schüler vor. Wie im harten lockdown. Hätten wir da noch eine Existenzberechtigung?
Gruß Oli
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